Wie Helmut Schmidt „Geburtshilfe“ zu unserer heutigen Bocksbeutelregatta leistete

Günter Jäckel gehört zu den „Urgesteinen“ des Würzburger Rudersports. Ab 1960 leitete er knapp 10 Jahre lang den Würzburger Regattaverein zusammen mit Franz Fersch (ARCW). Welche Aufbauarbeit auch in dieser Zeit noch zu leisten war und durch welche Widrigkeiten hindurch die Würzburger Regatten immer weitergeführt wurden, erzählte er uns in einem Interview im Januar 2019. Außerdem erfahren wir, wie ein anderes Urgestein, diesmal aus der großen Politik, der Altbundeskanzler Helmut Schmidt, eine gewisse Mitverantwortung dafür trägt, dass die Bocksbeutelregatta in der heutigen Form noch existiert…
Interview: Tilman Schenk

Vermutlich kennt fast jede/r eine solche Geschichte aus dem Ruderverein: Meist wird man nicht lange darauf vorbereitet, ein Ehrenamt zu übernehmen, sondern es fällt einem zu. So ging es auch Günter, als er im Jahre 1960 an einem lauen Sommerabend das Bootshaus betrat, eigentlich nur um Bier zu genießen: „Und wie ich das Bootshaus wieder verlassen habe, war ich zweiter Vorsitzender vom Würzburger Regattaverein.“ Es hatte sich herausgestellt, dass der bisherige Vorsitzende, Herr Hopf, in der eben stattfindenden Versammlung des Regattavereins seinen Rücktritt erklärt hatte. Günter war zur falschen Zeit am richtigen Ort und sagte sofort zu, die Verantwortung zusammen mit Franz Fersch zu übernehmen. Günter bemerkt mit einer gewissen Selbstironie: „Ich war vor allem so ein dummer Hund, der immer ja gesagt hat!“
Dabei hatte er noch gar keine Wettkampfrichterprüfung abgelegt, was in der damaligen Zeit aber ohnehin nicht als großes Hindernis gesehen wurde, wie er erzählt: „Bis Ende der 1950er Jahre ist das ganze Schiedsrichterwesen so über den Daumen gepeilt worden. Das waren also alte Männer, die waren Schiedsrichter, die haben im Großen und Ganzen wenig Ahnung gehabt vom Regelwerk. Die sind halt hinten nachgefahren und haben gesagt „Du!“ und „Du!“ und so ging das.“ Erst in den 1960er Jahren gab es in Süddeutschland die Initiative seitens des Rhein-Neckar-Bodensee-Regattaverbandes und seines Vorsitzenden Friedrich Beißwenger aus Mannheim, Schiedsrichterprüfungen zu veranstalten. An einer solchen hat auch Günter im Jahr 1961 in Neckarelz seine Lizenz erhalten: „Vorher hatte es geheißen, der Bubi Kaidel (aus Schweinfurt) soll euch vorbereiten auf die Prüfung, aber die Vorbereitung bestand darin, dass der gesagt hat, ach ihr wisst doch schon alles, und die Sache war erledigt! Da sind wir also nach Neckarelz gereist, da war dann am Nachmittag ein Einführungslehrgang vom Herrn Beißwenger, und am nächsten Morgen sollte die Prüfung stattfinden. Da haben wir gesagt, eigentlich müssten wir jetzt was tun! Also haben wir uns wirklich die halbe Nacht oder noch länger mit dem Regelwerk beschäftigt. Dann war früh eine theoretische Prüfung, das ging ganz gut. Und dann war die praktische Prüfung mit dem Herrn Beißwenger, da gings furchtbar zu. Es ging darum, ein Boot zu warnen, dass auf einen Pfeiler zufuhr, da hat er gesagt, das darf ich nicht. Da habe ich gesagt: Sie, ich bin 2. Vorsitzender von meinem Verein, ich schau nicht zu, wie ein Boot kaputt geht! Ja, dann sind Sie eben kein richtiger Schiedsrichter, hat er geantwortet. Also schön, habe ich da gedacht, du bist durchgefallen. Das hat dann 14 Tage gedauert, dann habe ich meine Lizenz zugeschickt gekriegt. War also nicht durchgefallen.“
Überhaupt schien der fränkische Rudersport noch viel stärker an die bereits bestehenden Ruderhochburgen an Rhein und Neckar orientiert, als innerhalb Bayerns. Es waren eben die dortigen anderen Regattaveranstalter, von denen es zahlreiche gab, auch in kleineren Städten, mit denen Regattatermine und Ausschreibungen abgestimmt werden mussten. Natürlich noch ohne Internet: „Da sind wir immer nach Mannheim gefahren oder Stuttgart, wo die halt getagt haben, und haben uns mit denen auseinandergesetzt, dass wir da nicht terminlich kollidiert haben. Also das war eine harte Kämpferei.“ Schließlich kam das Würzburger Team auf die Idee, die Regatta zeitgleich mit einer Regatta in Mainz zu veranstalten, jedoch die Ausschreibung untereinander abzustimmen: „Wir haben uns dahingehend geeinigt, die Rennen, die die am Samstag ausschreiben, die schreiben wir am Sonntag aus und umgekehrt. Das hat dann auch geklappt, dass die samstags in Mainz dann sonntags zu uns gekommen sind und umgekehrt. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen!“
Begonnen hat in Würzburg alles mit einer 2000-Meter-Regatta mit Kurve, später wurde dann auch durch die Löwenbrücke hindurchregattiert, eine große Herausforderung für die Schiedsrichter und die Ruderer, den mitten im Fahrwasser stehenden Pfeiler nicht zu treffen! In der damaligen Zeit, ohne moderne Kommunikationsmittel, eine logistische Herausforderung, zu deren Bewältigung man sich hoheitliche Hilfe holte: „Der Franz Fersch hat also fertiggebracht, dass das Fernmeldebatallion 12 kam. Da gabs einen Oberfeldwebel Bleinert, der hat sich also begeistert für die Sache, und Telefonleitungen auf den Maingrund gelegt.“ Und damit die unsachgemäße Entfremdung des Militärbestandes nicht auffiel, hatte man eine Vereinbarung: „Die sind also vollgetankt aus der Kaserne rausgefahren gekommen und wieder vollgetankt hinein! Die haben dann auf unsere Kosten wieder getankt und sind wieder zurückgefahren. Das war also eine tolle Sache. Später ging das dann nicht mehr. Als Helmut Schmidt Verteidigungsminister war, hat der das dann abgestellt, dass solche Dinge gemacht worden sind. Und da haben wir gesagt, also da müssen wir jetzt die Strecke verkürzen, das schaffen wir nicht mehr.“
Auf diese Weise hat also Helmut Schmidt, damals noch Bundesverteidigungsminister, die ersten Änderungen an der Würzburger Regatta mitverursacht. Aber auch beinahe jede andere wichtige Zutat zu einer gelungenen Regatta musste unter großem Aufwand hergestellt werden: Überspannungen über den Main für die Regattabahnen wurden angebracht, wofür ein Würzburger Dachdeckermeister und Ruderer, Otto Cleve, seine gesamt Belegschaft abordnete. Selbst die Startnummern für die Boote hat Günter aus Offenbach herbeigeschafft – und nach der Regatta zurückgebracht.
Wie heute auch noch, gelten die Sorgen eines Regattaveranstalters einem ausreichenden Meldeergebnis und gutem Wetter. „Es muss 1966 gewesen sein, als während der Regatta das Regenwasser so geflossen war, dass es Hochwasser gab und wir in der Nacht von Samstag auf Sonntag die Insel, die damals als Bootslagerplatz benutzt wurde, räumen mussten, weil das Wasser so gestiegen war. Und am nächsten Tag mussten wir früh abbrechen, weil nichts mehr zu machen war. Damals gab es noch eine Flussmeisterstelle in Würzburg. Der zuständige Flussmeister, ein gewisser Herr Schlien, mit dem haben wir sehr gut zusammengearbeitet, der hat uns dann am Sonntag früh einen Eisbrecher zur Verfügung gestellt, der den ganzen Regattaausschuss raufgefahren hat zur Heidingsfelder Brücke und dann haben sich zwei Einerruderer bereit erklärt, einen Probestart zu machen, die haben wir überhaupt nicht mehr gesehen, so schnell waren die weg. Da haben wir gesagt, Aus, Schluss, Feierabend.“ Die teilnehmenden Vereine beschlossen damals einstimmig, ihr Meldegeld nicht zurückzuverlangen, so dass der Regatta der wirtschaftliche Verlust erspart blieb…
Natürlich entstehen auf Regatten aber auch immer wieder Geschichten, die einem zwar im Moment „das Herz in die Hose rutschen“ lassen, mit einigem zeitlichen Abstand aber als launige Geschichte erzählt werden können. Etwa wie eine der Schreibmaschinen, mit denen einst die Ergebnisse getippt wurden, unter Strom stand und dem Bediener einen elektrischen Schlag versetzte. Oder wie man ein Zuschauerzelt aufstellte und mit einem Zelthering das Telefonkabel des Wasser- und Schifffahrtsamtes, das die Schleusenbesatzungen verband, durchtrennte…
Besonderer Aufwand musste auch beim Meldeschluss getrieben werden. Eine wichtige Rolle spielte dabei die so genannte „Kuhhaut“. Dahinter verbarg sich keineswegs ein tierisches Produkt, sondern eine große Tafel: „Und dann musste eingetragen werden, welches Rennen, die Beträge und daraus hat sich ja dann der Anteil berechnet, der an den Ruderverband abzuführen war. Und dann hat der Mist nicht gestimmt von hinten bis vorne, weil man alles von Hand gerechnet hat! Die Meldeschlüsse waren früher also schon eine Aktion.“ Allein aus dieser Formulierung von Günter Jäckel lässt sich der Schweiß ablesen, der für die Organisation zu dieser Zeit vergossen wurde: „Wenn Meldeschluss war, habe ich zwei Tage Urlaub gebraucht. Sonst ging’s nicht. Und wenn die Regatta rum war, habe ich auch einen Tag Urlaub gebraucht.“
Die Rudergäste, einige Hundert oft, wollten natürlich auch übernachten. Ohne Internet und Recherchemöglichkeiten musste auch dies organisiert werden. Zum Glück saß auch hier wie so oft ein Ruderer an der richtigen Stelle: „Der damalige Verkehrsdirektor der Stadt Würzburg, der Dr. Hans Schneider, der war ARCW-Mitglied. Und über den ist uns dann gelungen, dass das Fremdenverkehrsamt der Stadt Würzburg die Quartiergeschichte übernommen hat. Die haben dann einen für uns abgestellt, den Herrn Strobel. Und die Meldungen für Quartiere gingen jahrelang sofort an den, und der hat die dann untergebracht in den Hotels in der Stadt. Es gab zwar viele so kleinere Hotels, und es sollte ja auch preiswert sein, aber wenn du das machen musstest, das war ja so ungefähr als wenn du Kieselsteine sortierst.“
Wenige Jahre später zog es Günter dann zu höheren Ämtern – oder vielmehr ist er „nauf gerutscht“, wie er sagt. Weil ein stellvertretender Vorsitzender des Bayerischen Ruderverbands mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war und der bayerische Referent für Schiedsrichterwesen überraschend gestorben, übernahm Günter kurzerhand beide Ämter: „Da haben die gesagt, dann machst du das noch dazu, dann hast du wenigstens eine echte Aufgabe!“ Dazu wurde ihm auch angetragen, die internationale Wettkampfrichterprüfung zu machen, damals noch auf Französisch. „An einem Faschingssonntag, werde ich nie vergessen, im Bootshaus der Frankfurter Germania, draußen hat sich der Faschingszug formiert und wir haben drinnen die internationale Prüfung gemacht!“ Dabei konnte Günter gar nicht Französisch, sondern hatte sich zusammen mit zwei anderen Aspiranten in den vorherigen Wochen mühsam die auf Regatten gebräuchlichen Ausdrücke und Formulierungen selbst beigebracht. Dem Prüfer blieb dies freilich nicht verborgen, wie Günter erzählt: „Der mündliche Teil war ja etwas dubios. Mich hat der Herr van der Ploeg geprüft, das war ein Holländer, und der hat gesagt, also Ihr Französisch ist noch verbesserungswürdig. Da habe ich gesagt, ja das weiß ich. Und daraufhin haben wir uns dann unterhalten über sein Hotel, er hat mir erzählt, er war Getreidehändler und dass sie da immer ihre Kongresse abhalten. Das war dann eine gemütliche Prüfung, und dann war das vorbei… So bin ich also internationaler Schiedsrichter geworden…“
Zurück nach Würzburg: Während wir heute gewohnt sind, dass die Regatten zwar regen Zuspruch von Sportlerinnen und Sportlern erfahren, der Stadtgesellschaft aber weitgehend verborgen bleiben, war das früher anders. Allerdings hatte solche Aufmerksamkeit auch ihren Preis, der im Wesentlichen aus einem sehr viel höheren organisatorischen Aufwand bestand: „Eine Zeit lang haben wir auch unten ein Zelt gehabt, vor dem Ziel. Das hat schon funktioniert, aber das war dann zu aufwändig. Das war hüben auf dem Ufer auf unserer Seite, gegenüber vom Zieleinlauf. Da haben wir drüben, wo das Gelände eingezäunt ist von der Wasser- und Schifffahrtsdirektion, da konnten wir ja unser Zeug reinstellen, und genau gegenüber an der Brücke war das Zuschauerzelt.“
Aus den vielen Erlebnissen, die es zu erzählen gibt – eine knappe Stunde dauert das Gespräch nun schon – wird deutlich, wie wechselvoll die Geschichte des Würzburger Regattawesens alleine in den letzten 50 Jahren gewesen ist. Und dennoch: „Aber es ist uns immer gelungen, die Regatta am Leben zu erhalten, das war uns immer wichtig, dass es nicht ausfällt. Ich glaube, ein- oder zweimal ist es dann später mal ausgefallen wegen schlechten Meldeergebnisses. Aber ansonsten haben wir immer wieder gekämpft, haben gesagt, um Gottes Willen, dass der Termin nicht blöd fällt…“ Auch das Hochwasser 1998 und Ausbauarbeiten an der Bundeswasserstraße Main im Jahr 2001 haben der Regatta zugesetzt. Spontan wurde die gesamte Regatta in diesem Jahr mainabwärts nach Miltenberg verlegt (aber das ist wieder eine andere Geschichte…): „Richtig, da war ich auch dabei, die Miltenberger Ausweichregatta! Ja, passiert, aber sie hat überlebt! Und das war das wichtigste. Ja, Würzburg ist zu einem Begriff geworden!“ Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen…